Sonntag, 11. September 2011

Die Motte

Sie hat eine Verabredung. Mit einem von diesen oder jenen Burgherren, die in der Festung der facebook community so blind und zielsicher umherschwirren, wie ihre Finger über die Tastatur des Laptops flitzen. Eine Verabredung für´s Naturkundemuseum. Nur so für den intellektuellen Austausch und ein Glas Wein an der Bar – Natürlich!

Sie ist auf dem Weg. Und sie fliegt, flitzt, schwitzt, beduselt, befuselt und viel zu spät dran. Aber das Kleid sitzt. Das Image blitzt. Und Augen ertrinken im Zwielicht – dem hier nicht, dort nicht und schon gar nicht tief, funkelnd, himmelsternlich, sehnend, flehend, tanzend, sehend, bis der Atem bricht. Ihr Kleid, ihr Herz, fliegen im Wind und sie rennt und rennt, geschwind, geschwind und denkt:

„Ich bin wie ein Gedicht, gegen den Strom, fragend, brechend, hungrig, unendlich.“

Und dann hält sie inne. Gepeitscht vom Kampfgeist fühlt sie den Schmerz, wird wieder Herr, FRAU ihrer Sinne.

„Den, nein den doch nicht!“

Aufhören, AUFHÖREN muss sie! Ein verklebter, verschmierter Blick auf den Nachttisch. Haut, Schweiß, Nachtschlick an sich, wie eine Schleimschicht, ein Schneckenragout – blutig, roh, delikates. Hässlich! Hässlich! Abscheulich!

Nein. Sie will es nicht.

Und steht nun da. Das Museum fast so nah, wie die ohnmächtige Szenerie danach. Und sie blickt um sich und dort am Flussufer brennt irgendwo ein Licht.

Das Restaurant sieht nett aus, leer zwar, düster, doch irgendwie feierlich. Sie tritt ein, bestellt ihren Wein. Es ist kühl. Das Kleid schlottert auf der Gänsehaut. Doch sie ist erfüllt, vom Sprühregen des Kerzenlichts – um sich, in sich.

Und dann sitzt da einer.

Nur so ein Gast. Ein Irgendwer, von irgendwoher. Ausgespuckt in die Nacht, etwas verlebt aussehend, Buch bei sich, Stift gezückt, in die Ferne schweift der Blick. Hat wohl irgendwo den Tag, das Leben verbracht – wie sie. War ein Junge einer Mutter, ist der Junge da, hier in Berlin, beschienen vom selben Kerzenlicht, mit denselben, ertrunkenen, versunkenen Augen. Und viel zu bald erhebt er sich, verlässt die Bühne, streift ihren Schatten, als sei´s ihre Haut, die aufblitzt und nicht mehr erlischt. Und dann ward er mal dort gewesen – dort und dann, mit ihr. Und der Moment zerreißt, wie das Papier, auf dem sie ihn nun in Worten niederbricht.

„Aber die Erinnerung, das Herz, vergisst doch nicht!“

Und wie eine Motte, eine Motte schwirr ICH ins Licht, will frei sein, frei sein vom Glashaus, das mich spiegelt, gefangen hält, verbrennt, zerbricht.

Und in die U-Bahn husche ich. Nass, beschmutzt, rattenhaft, vom langen Nagen und Mich-laben und Irren und Wirren in den Kanalsystemen der Unterwelt.

Und da sitzt sie.

Irgendeine Sie. Schick, starr, herrisch, blendend weiß, schön, Plastikgesicht. Ein Karrierefrau, ein Klischee, ein Abziehbild. Mehr sehe ich nicht. Und setze mich.

„Du, Schmetterling“, sagt einer. Irgendeiner von rechts neben mir. Ich reagiere nicht – meint er doch wohl das Modell Plastikgesicht. Er sagt´s, erhebt sich und singt ein Lied –

„the moth, the moth, the moth in the box“

Ich erinnere mich.

Etwas flattert in mir, um mich. Und dann sehe ich auf und weiß, er meint mich. Und ich will noch was sagen, was wirklich Echtes, Gefühltes, Mächtiges, doch dann sind wir U-Warschauer. Türen öffnen sich. Ich zittere und er streckt seine Hand aus nach mir und wie im Spiegel reflektiere ich. Er reicht mir etwas – eine Wunderkerze.

„Ich versprühe, doch verglühe ich nicht.“

Er sagt´s. Ich sag´s. Ohne Worte. Und dann nichts.

Momente, das Leben – so schön, absonderlich. Und mein Leben – das bin ich.

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